Ambivalente Nachhaltigkeit?
Alles kann. Nichts muss!
Der gesetzlich regulierte Klima- und Umweltschutz ist eines von zwei Kernthemen von Populisten. In der EU über Jahrzehnte demokratisch und organisch gewachsene Standards und Normen werden als „Klimagedöns“ oder sogar „Klimadiktatur“ bezeichnet. Wer ungewollt solche Framings mit bestimmter Rhetorik verstärkt, handelt unwissend oder fahrlässig. Das ist kontraproduktiv. Ein Diskurs bedingt Fairness und Sensibilität.
Bild: Das 2023 erschienene Fachbuch des Autors Marko Hanecke. Die Brancheninitiative UmDEX hat dazu eine Replik verfasst..
Bild: Das 2023 erschienene Fachbuch des Autors Marko Hanecke. Die Brancheninitiative UmDEX hat dazu eine Replik verfasst..
2023 haben zwei Autor:innen Werke u. a. zur nachhaltigen Medienproduktion veröffentlicht. Pia Weißenfeld hat mit ihrem Werk Nachhaltiges Grafikdesign Stringenz und Authentizität demonstriert und folgt ihrem Leitbild. Sie erweitert ihre Informationen über Normen und Standards um diverse freiwillige, zusätzliche (nicht alternative) ökologische oder soziale Maßnahmen. Das Buch wurde konsequent nachhaltig gedruckt und ist entsprechend hochwertig nachhaltig gelabelt. Auf Folien wurde verzichtet.
Eine Identifizierung von Haltung und Werten bei den jeweiligen Autor:innen ist gerade bei diesem Thema elementar.
Nachhaltig drucken
Ein weiteres Buch, das ebenfalls Ende 2023 erschien, mit dem Titel „Nachhaltig drucken“, wurde von Marko Hanecke verfasst und ist thematisch verwandt. Es ist deutlich weniger umfangreich und hat uns fachlich weniger überzeugt.
Einige Äußerungen des Autors sind konträr zu zentralen Überzeugungen der Brancheninitiative UmDEX. Leser:innen, die sich bereits mit offiziellen Standards beschäftigen, könnten verunsichert werden. Diejenigen, die mit der nachhaltigen Transformation noch zögern, könnten gewisse, sich wiederholende Äußerungen als Vorwand dafür interpretieren. Das kann der Autor nicht gewollt haben! Verschiedene Informationen sind fachlich unkorrekt bzw. zumindest missverständlich formuliert. Aus unserer Perspektive sind einige Aussagen in dem Taschenbuch oder im Buch-Marketing irritierend und destruktiv. Der Autor beantwortet Fragen, die nach unserer Kenntnis niemand stellt.
Im Kontext mit professionell zertifizierten Druckereien und nachhaltig gesiegelten Druckprodukten verwendet der Autor häufiger die Begriffe „Legitimation“ und „Rechtfertigung“. In Summe legitimiert und rechtfertigt er sich damit selbst. Fakt ist:
Bei der materiellen Formatierung dieses Buches wären offizielle Siegel für den Umwelt- und Klimaschutz aus klar definierten Gründen nicht gestattet gewesen!
Auf diese fehlenden nachhaltigen Auszeichnungen seines Buches kommt der Autor öfters zu sprechen, auch in der Presse. Aus unserer Sicht entwickelt er entlang dieses Themas einen seltsamen Stil. In Summe aller Aussagen irritiert uns diese Rhetorik nicht zum ersten Mal – warum klingt das so doktrinär? Relativierungen offizieller Standards führten uns zu keinem Ziel. Stattdessen haben wir häufig persönliche Theorien gelesen, die nicht belastbar sind.
Wir können hier keinen nützlichen Diskurs identifizieren.
Formatierung des Buches
Das Buch wurde, obgleich eine Publikation über Nachhaltigkeit, so der Autor, mit Absicht nicht nach den Regularien von international definierten, offiziellen Standards zum Umwelt- und Klimaschutz konzipiert. Darum fehlten entsprechend hochwertige Labels. Daran kann man sich stören oder nicht. Vielleicht mehr noch am Argument, dass er somit keine Partei ergreifen müsse? Welche Partei? Gibt es eine Opposition? Soweit uns bekannt, gab es wegen der Formatierung seines Buches keine Vorwürfe. Autor und Verlag konnten gestalterisch vollumfänglich frei entscheiden. Gut so!
Die Druckbranche ist bunt, divers und vielfältig! Alles kann. Nichts muss. Auch nicht das Labeln von Druckprodukten!
Denken wir an die Debatte beim Gendern: Niemand muss gendern! Viele tun aber so, als müssten wir. Dabei sollen nur die, die das tun, dafür nicht kritisiert werden. So ist das auch bei Print: Autor:innen können beinahe alles drucken, was ihnen beliebt: Mit oder ohne Siegel oder Folie, lackiert oder gelasert, mannigfaltig veredelt, auf Frischfaser- oder Recyclingpapier. In großen oder kleinen Auflagen gedruckt etc. Oft ist das jedoch nicht sinnvoll.
Totalitäre Beschränkungen existieren genauso wenig, wie beim Gendern. Gegenteilige Anspielungen auf Zwangsvorschriften bzw. die Kreativität einschränkende Regime klingen für uns nach Opportunismus und Populismus.
Alles gut: Auch in dieser Replik geht es uns nicht um die haptische Formatierung des Buches, sondern darum, wie der Autor diese öffentlich reflektiert – deshalb nur ein kurzer Blick auf die materielle Beschaffenheit:
Das Buch „Nachhaltig Drucken“ wird foliert ausgeliefert. Die Inhaltsseiten bestehen aus 18 verschiedenen Bedruckstoffen, bedruckt bei fünf verschiedenen Druckereien. Alle diese nicht zwingend nötigen Extras lassen nennenswerte, für den Zweck eines Fachbuches aus unserer Sicht vermeidbare CO₂-Emissionen u. a. bei den Transporten erahnen. Dem Autor und/oder dem Verlag war diese Formatierung offensichtlich wichtig. Beim gelaserten und geprägtem Umschlag fiel die Wahl auf ein Substrat, das zu 50 Prozent aus erdölbasiertem Bindemittel besteht. Es kamen Offset-, Risographie-, Digital- und Siebdruck zum Einsatz.
Bei unseren Exemplaren lösten sich mittlerweile einige Seiten. Die Extras sind schön anzusehen, stehen aber nach unserem Verständnis nicht im Verhältnis zur vermutlichen CO₂-Emission, egal, wie es der Autor dreht und wendet.
Auf der Suche nach belastbaren Fachinformationen, war diese materielle Beschaffenheit irrelevant für uns.
Jeder hat Zugriff auf weit üppigere Papierfächer – uns erscheint ein Fachbuch dafür wenig nützlich. Mit Blick auf die nachhaltige Medienproduktion bezweifeln wir insbesondere, dass sich für derart veredelte Fachbücher eine wie vom Autor konstatierte Wertsteigerung, also nachhaltige Vorteile z. B. beim Lebenszyklus oder bei der Bruttoreichweite etc., plausibel ableiten lassen – dürfte es doch auch den meisten Leser:innen zuallererst um die vermutete inhaltliche Expertise gehen und weniger um eine spezielle Formatierung.
Kein konkreter Diskurs ohne Details
Der Autor durfte seine Extras ungeniert verbauen und sein Buch auch ungelabelt in Verkehr bringen. Es ergibt für uns also keinen Sinn, in diesem Kontext hochwertige, nachhaltige Standards und Siegel subtil und/oder diffus aber beharrlich zu relativieren. Die uns vorliegenden Argumente genügen auch nicht als Diskussionsgrundlage. Dazu fehlen konkretere Details. Persönliche Ansichten oder Empfindlichkeiten sind keine qualifizierte Basis dafür und besser auf einer privaten Facebook-Seite platziert.
Apropos Kritik an Labels und Normen als Grundwerk gemeinsamer Regeln:
Insoweit konkrete und sachliche, fachliche Einwände an offiziellen, über Jahrzehnte organisch gewachsenen Standards und Normen bestehen, können diese demokratisch in entsprechenden Fachausschüssen, Gremien oder Anhörungen von Labelgebern oder -inhabern vorgetragen werden. Doch der Autor adressiert seine persönlichen Theorien offensichtlich lieber an die Öffentlichkeit. Mehrwerte konnten wir daraus keine ableiten, denn:
Die regulative Wirkung von Standards liegt doch gerade in ihrer Natur!
Regularien regeln. Standards standardisieren. Normen normieren. Eine vollständige Wahlfreiheit innerhalb dieser Grenzen, z. B. beim Material, würde den Sinn doch ad absurdum führen.
Aufgrund des Modus Operandi des Autors haben wir uns gefragt, ob das Buch primär ein Fachbuch über die nachhaltige Medienproduktion sein soll oder eine Demonstration seiner kreativen Fantasie. Für uns verbindet er beides nur, um damit ein imaginäres Konfrontations-Szenario zu erzeugen. Das gefiel uns nicht. Am Ende sollten sich Autor:innen von Fachbüchern rein fachlich qualifizieren – andere Autor:innen haben uns dahingehend stringenter informiert.
Nachhaltig drucken: Unsere Motivation
Die UmDEX-Brancheninitiative möchte auch Einsteigern in das Thema eine sachliche Positionierung im Sinne der Relevanz offizieller Standards ermöglichen. Wir senden ein klares Bekenntnis zu offiziellen Standards im Umwelt- und Klimaschutz. Es braucht gemeinsame Spielregeln (Frameworks) für die nachhaltige Transformation. Diese sind für die grafische Industrie so wichtig wie im Sport oder im Straßenverkehr. Was wäre wohl, wenn es keine StVO gäbe!? Wir möchten Interessierte motivieren, sich, schon aus ökonomischen Gründen, mit dem Thema zu beschäftigen und unklar formulierten Zweifeln an Standards und Normen begegnen.
Die UmDEX-Brancheninitiative grenzt das professionelle Segment zwar ab – das ist ihr Wesen – aber niemanden aus. Im Gegenteil!
UmDEX-Druckereien laden ein, informieren, motivieren und bieten einen persönlichen Austausch an. Gemeinsam wollen wir Komplexität reduzieren und die Lust auf die nachhaltige Medienproduktion fördern: Natürlich sind auch gelabelte Drucksachen oft raffiniert, fantasievoll, extravagant und teils atemberaubend stilistisch und nicht nur „grau“! Natürlich ist es bestmöglich nachhaltig, wenn z. B. Beilagen hochwertig nachhaltig zertifiziert werden und entsprechend produzierende Druckereien zusammen mit ihren Kund:innen stattliche Beträge in die Aufforstung unserer Wälder investieren.
Druckereien der UmDEX-Klasse belehren weder ihre Kund:innen noch andere, sondern beraten mit Expertise. Solche Unternehmen produzieren auch nicht ausschließlich hochwertig nachhaltig gelabelte Druckprodukte. Sie überlassen die Wahl ihren Kund:innen. Wer es crazy bunt und heavy mag, bekommt natürlich auch das. I. d. R. machen sich Druckdienstleister:innen dahingehend auch keine gegenseitigen Vorwürfe.
Keine Relativierung von Relativierungen
Zurück zum Thema: Der Autor wünscht sich in einem öffentlichen Interview, dass über Jahre organisch gewachsene, demokratisch entwickelte Umweltzeichen wie der Blaue Engel hoffentlich nicht zum Standard würden (was er bereits ist), da sie „fantastische Möglichkeiten stehlen“: Solche und ähnliche Anspielungen zahlen aus unserer Perspektive nirgends ein: Wo ist der Mehrwert? Ist sowas tolerabel? Ja, das ist Meinungsfreiheit! Gehen Aussagen zu Lasten anderer? So empfinden das zumindest diverse Druckdienstleister:innen. Wo endet Meinungsfreiheit? Ist das schon Schwurbeln? Dazu maßen wir uns kein Urteil an.
Hätte der Autor im Umfeld einer bezüglich der antidemokratischen Tendenzen hoch sensibilisierten Wirtschaft vorsichtiger argumentieren sollen? Noch nie war die Wirtschaft derart politisch, wie u. a. auf LinkedIn zu beobachten. Unternehmen beziehen sogar auf ihren Produktverpackungen Stellung und zeigen Haltung, die oft auch ein Bekenntnis zur EU beinhaltet und sich u. a. gegen das „Klimagedöns“-Argument der AfD wendet. Ein ähnliches Beispiel kommt von Julius Palm, der auf LinkedIn eine Diskussion für die Verpackung einer Bio-Pizza „ANTIRASSISTI“ anstößt.
Wir orientieren unser eigenes Handeln, unsere Werte und öffentliche Statements, entlang dieser Logik:
- Wer den Klimawandel prinzipiell nicht leugnet, anerkennt die Mechanismen der Dekarbonisierung. Von weiteren Pluspunkten der Transformation abgesehen, denken wir an die zu erwartende Energie-Souveränität oder -Wertschöpfung (Energiereichtum) bei der Energieerzeugung überall in der EU – besonders in den Regionen (Bürgerkraftwerke etc.).
- Wer also diese Mechanismen der Dekarbonisierung anerkennt, kommt nicht umhin, auch die damit verwobenen Standards, Normen und Prozesse zu adaptieren, die, wie erwähnt, über Jahrzehnte demokratisch und organisch gewachsen sind bzw. weiter wachsen. Diskurs stets eingeschlossen!
- Ebendiese Standards manifestieren sich u. a. auch durch bestimmte Regularien bei diversen DIN-ISO-Managementsystemen wie 14001 oder 50001, EMAS, dem EU-Ecolabel und dem Blauen Engel für Druckprodukte, DE-UZ 195.
- Ausgehend von dieser Plausibilität sind Expert:innen, wenn sie sich nicht zu den Klimaleugnern zählen, zugleich aber besagte Standards und Normen ziemlich stringent als einschränkend ablehnen, wenigstens inkonsequent und unglaubwürdig. Unter Umständen auch opportunistisch und populistisch.
Populismus ist ein Instrument des Opportunismus.
Dem Begriff Populismus werden von Sozialwissenschaftler:innen mehrere Attribute zugeordnet. Charakteristisch ist die Verstärkung oder die Ausnutzung vorhandener Stimmungslagen. Die Stimmung in der EU ist derzeit kritisch, wie u. a. der Experte Peter Jelinek auf den Punkt bringt. Opportunismus richtet sich an eine vermutete Mehrheit, zum Beispiel bei Wähler:innen oder im Kreise von Rezipient:innen. Oft sind wirtschaftliche Gründe treibend.
Wir unterstellen dem Autor natürlich keine Nähe zu bestimmten parteipolitischen Ideologien oder politischen Populismus. Doch zumindest erinnern uns solche Rhetoriken und Framings an entsprechende Methoden. Wer sich in der Öffentlichkeit zu sensiblen Themen äußert und selbst, wenn die Reichweite irrelevant wäre, sollte aber mit Blick auf das politische Umfeld mit besonderer Sensibilität berücksichtigen, dass populistische Parteien zwei zentrale Themen adressieren:
- Migration.
- Alles, was sich aus der nachhaltigen Transformation ableitet: insbesondere die Regularien, reale Belastungen oder die entsprechenden Aufwände bei der Umsetzung, was den administrativen Aufwand bei den Siegel-Nehmern einschließt. Populismus ist zumeist schon (wenn nicht erst recht) erfolgreich, wenn möglichst oberflächlich und einfach formuliert wird. Das ist oft ein wesentliches Merkmal von Populismus, verbunden mit nihilistischen Tendenzen.
Fahrlässige Argumentation?
Nach unserer Überzeugung verstärkt der Autor durch seine über die letzten Jahre wiederholt geäußerte kritische, aber oft nicht konkretisierte Haltung gegenüber professionellen (bürokratischen) Standards auch entsprechende Ressentiments und Klischees aus den Mindsets solcher Gruppierungen. Entsprechende Wordings wie untenstehend, sind nach unserer Überzeugung fahrlässig, wenn sie derart pauschal geäußert werden.
Gerade populistische Erzählungen handeln u. a. von „der bösen“ EU-Bürokratie, von Einschränkung, Bevormundung und Freiheitsberaubung etc. pp.
Wir haben nichts gegen einen intelligenten Diskurs. Der bedingt aber in diesem komplexen Thema konkrete Kritikpunkte.
Populismus steht in der Kritik, weil sich die Gefahr gerade nicht im lauten Geschrei, sondern häufig durch subtile, verallgemeinernde oder diffuse Anspielungen offenbart. Denken wir nur an das Argument, dass es Klimawandel schon immer gab. Das ist wahr, bestreitet aber auch niemand.
Ungeachtet dessen, was der Autor gemeint hat, kann die Summe seiner Aussagen völlig anders verstanden werden. Zum Beispiel äußert bzw. fragt er in einem Interview (Deutscher Drucker 1/2024): ob wir in einer Welt leben wollen, die Druckprodukte in ihrer sensorischen Dimension derart limitiert? Oder: „Wir sollten auch weiterhin ansprechende Druckprodukte in die Welt bringen dürfen […] abseits grauer Standards” oder „… denn solche Labels stehlen uns faszinierende Möglichkeiten”.
Für manche klingt das wie die Anspielung an ein freiheitsberaubendes Öko-Regime.
Wieder fehlen uns Fakten zur Kritik. Der Autor feuert weiter an, mit Aussagen, dass die Diskussion in der Branche „unterkomplex“ sei, auch, wenn das Gegenteil der Fall ist. Er sollte die führende Brancheninitiative UmDEX kennen. Autor:innen wie Pia Weißenfeld erwähnen uns. Dann wüsste er, dass die Diskussion stattdessen sogar eher überkomplex ist.
Warum nicht Sowohl-als-auch, statt Entweder-oder?
Sollen vorgenannte Aussagen vorsätzlich so etwas wie ein hinderliches Verbotsregime suggerieren? Wir fragen uns, zu welchem konstruktiven Ziel so eine nebulöse Kritik führen soll, abseits von Opportunismus?
Marketing ist manchmal aufgeregt und lebt von Superlativen. Wir sind dahingehend schon sehr gelassen. Wo gehobelt wird fallen Späne. Da darf man auch mal unsensibel sein, doch:
In unserer Branche begegnen sich Unternehmer:innen kooperativ und konstruktiv. Das ist eine Frage des Stils.
Meine persönliche Einschätzung
Einzelne Aussagen wären dahingehend kaum aufgefallen. Das vorgenannte Mission Statement zieht sich aber wie ein roter Faden durch diverse öffentliche Aussagen. In einer Tonalität, die mir persönlich überhaupt nicht gefällt.
Ausgrenzung? Fronten schaffen Reibung:
Die öffentlich verbreitete Hoffnung des Autors, dass „solche Labels“ nicht zum Standard werden dürfen, finde ich viel zu aufgeregt. Toxisch wird diese Aussage in Verbindung mit einer Ausgrenzungs-Argumentation, dem Sinn nach: Die, die sich an offiziellen Standards ausrichten und ihren Überzeugungen folgen, grenzen aus. Der Autor formuliert es in besagtem Interview subtiler: „[…] wir sollten im Blick haben, dass die Kommunikation der progressiven Unternehmen unseren Wirtschaftszweig nicht in zwei Lager spaltet. Hier die‚sauberen‘, zertifizierten Betriebe und dort die Umweltsünder“.
Exklusion? Spaltung?
Wer grenzt denn aus und wer wird ausgegrenzt? Wie wird ausgegrenzt und wer spricht von „Umweltsündern“? Mir ist keine solche Exklusion in der grafischen Industrie bekannt. Warum also diese Erzählung von der Spaltung? Für mich ist das ein vorsätzlich konstruiertes Bühnenbild. Will sich der Autor damit als Oppositionsführer in einem fiktiven Konfrontations-Szenario anbieten? Ich kenne keine Konfrontationspartner:innen und frage mich:
Wie viele Leser:innen fühlen sich wohl als Ausgegrenzte? Rentiert sich das alles als Geschäftsmodell?
Bei mir entsteht der Eindruck, als solle sowas wie ein WIR-Gefühl unter „ausgegrenzten” Druckereien und Kreativen projiziert werden. Zwar frei von politischen Motivationen, aber durchaus opportunistisch gedacht, mit Blick auf eine vermutete Mehrheit: Was? Die EU und unsere Regierung wollen uns einschränken? Professionell Nachhaltige Druckereien zeigen mit dem Finger auf uns? Wir Ausgegrenzten?
Ein bisschen Greenwashing?
In Summe aller Aussagen lokalisieren ich und andere hier ein seltsames Leitbild, verstärkt durch Aussagen, so wörtlich: „In meinen Augen praktizieren Sie und Ihre Auftraggeber:innen nicht unbedingt Greenwashing, wenn Sie mit frei erfundenen oder ungeschützten Siegeln und Ausdrücken Druckprodukte auszeichnen” (vgl. Buch „Nachhaltig drucken“, Seite 107, erschienen im Verlag Hermann Schmidt, ISBN 978-3-87439-974-6). Zwar relativiert er diese Aussage im Buch. Trotzdem: Mich führt dieser mehrseitige Eingang auf unregulierte Labels wiederum nirgendwo hin. Ich bin nicht sicher, ob das einige Leser:innen sogar als Motivation zum Greenwashing verstehen könnten, trotz dieser in dem Kontext nicht klärenden
Relativierungs-Relativierungen.
Die darauf folgenden Hinweise über die Fallstricke „regulierter Labels“ klingen ähnlich relativierend. Zum Beispiel auf der Seite 126, unter der Headline Blauer Engel für Druckerzeugnisse (DE-UZ 195):
„Einen Widerspruch sehe ich darin, dass durchgefärbte Papiere mit dem Blauen Engel ausgezeichnet werden. Und das, obwohl das Zeichen viel Wert auf Recyclingfähigkeit setzt, die bei diesen Papieren nicht gegeben ist. Ich habe den Eindruck, dass Verbraucher:innen glauben, dass der Blaue Engel eine absolute Unbedenklichkeit und Umweltverträglichkeit bescheinigt, was nicht der Fall ist.“
Druckprodukte die zu nennenswerten Teilen aus durchgefärbten Papieren bestehen, erhalten i. d. R. aber keine Auszeichnung mit DE-UZ 195 (Druckprodukt): Das hergestellte Fertigerzeugnis muss deinkbar sein (INGEDE). Durchgefärbte Papiere sind i. d. R. nicht deinkbar, sehr wohl aber recyclingfähig. Solche Papiere könnten deshalb mit dem Blauen Engel UZ 14a (Recyclingpapier) gelabelt sein.
Kennt der Autor solche Details? Wo nimmt er seinen Eindruck her, was Verbraucher:innen denken? Gab es eine Befragung? Auf mich wirkt das so, als würde er sich zu sehr auf Relativierungen offizieller Standards fokussieren und darunter häufiger die fachliche Präzision leiden. Wie erwähnt:
Für mich verliert sich der Autor im Tohuwabohu seiner imaginären Konfrontations-Realität.
Nochmals: Daran, dass sein Buch nicht gelabelt ist, hat sich wohl niemand gestoßen. Gleichwohl deklariert er sein Druckprodukt – für mein Empfinden sogar als eine der Kernbotschaften – selbst im Vergleich zu gelabelten Druckprodukten als u. U. sogar nachhaltiger. Warum? Weil es so beliebt, so attraktiv gestaltet und auch deshalb so lesenswert ist? Ist es das denn für alle? Weil es deshalb nicht entsorgt wird?
Wenn der Autor Geschäftsmodelle wie Beilagen, vergleichsweise zu seinem eigenen Werk, als weniger nachhaltig skizziert – trotz ihrer offiziellen Labels und ihrer oft weit über den gesetzlichen Anforderungen nachhaltigen Produktionsumgebungen – klingt das, bei allem Wohlwollen, unsachlich und bissig.
„Beliebtheit” ist kein wissenschaftlich belastbares bzw. quantifizierbares Kriterium. „Eindrücke” sollten in einem Fachbuch sparsam artikuliert werden.
Für präzise, belastbare Vergleiche gibt es wissenschaftliche Vergleichsmethoden, die in Normen und Standards bezeichnet werden. Wie würde sich denn die CO₂-Bilanz einer Buchproduktion den Argumenten des Autors folgend ändern, wenn Hunderte dieser Bücher unverkauft im Lager liegen blieben? Schon diese Frage verdeutlicht, dass persönliche Theorien keinen zu großen Raum in einem Buch über die nachhaltige Medienproduktion einnehmen sollten.
Natürlich wollen alle Absender:innen, dass ihre Druckprodukte gemocht und geliebt werden. Das deshalb oft kein Weg daran vorbei führt, auf Labels zu verzichten, um sich dem Stehlen von Kreativität zu entziehen, als wesentliche Basis dafür, eine begehrte und darum nachhaltige Drucksache herzustellen? Wer soll diese Argumentationskette verstehen?
Generalumkehrung beim Begriff der Legitimierung:
Im Zusammenhang auch noch anzudeuten, nicht er selbst würde sein Buch, sondern nachhaltig fokussierte Unternehmer:innen würden sich oder ihre Produkte möglicherweise als besonders nachhaltig u. a. legitimieren – ungeachtet ihrer tatsächlich hochwertigen Unternehmens-Zertifizierungen und Produkt-Labels und ungeachtet von nachhaltigen Produktionsumgebungen:
Das ist kontraproduktiv.
Was ist mit Unternehmen, für die eine breite Streuung von Print die zentrale Geschäftsstrategie ist? Was ist mit Remittenden beim Grosso? Die wenigsten Absender:innen von Print können oder wollen ihre Druckprodukte für spezielle Veredelungen derart von A nach B schicken. Viele fahren auch kein tonnenschweres SUV, um Eindruck zu machen, damit erfolgreicher zu werden, um irgendwann gar nicht mehr fahren zu müssen!? Please: Real Life Check!
Versöhnlicher klänge es doch so:
Labels grenzen ab, nicht aus – sie ergänzen nachhaltige Druckprodukte bestmöglich. Das gemeinsame „Ding“ ist hier elementar. Normen und Standards schaffen Sicherheit, Fairness und Transparenz! Weitere, freiwillige Maßnahmen können dieses Framework optimal ergänzen.
Jahrhundertprojekt Nachhaltige Transformation
Ob das Lieferkettensorgfaltsgesetz, der CO₂-Preis, ob Wärmewende oder die CSR-Berichtspflicht. Ob Druckprodukt- und Unternehmenszertifizierungen oder weitere Regularien wie die EU-Taxonomie, als Radar für nachhaltige Investitionen (Finanzwesen): Die Nachhaltige Transformation belastet und betrifft jeden von uns, sowohl Unternehmer:innen als auch Privatpersonen. Darum haben populistische Parteien enormen Zulauf!
Erinnern wir uns kurz:
Gesetze bzw. Regularien und die Kritik daran sind Geschwister. Proteste über Regularien gab es schon immer. Zum Beispiel beim Verbot von Raserei und Drängelei auf den Autobahnen. Oder bei der Reduzierung der Promillegrenze von 1,5 auf 0,8 (vorher durften Autofahrer:innen quasi betrunken Auto fahren). Denken wir auch an die Stärkung der Frauenrechte. Frauen waren noch bis in die 70er-Jahre massiv eingeschränkt, ja förmlich unterdrückt (Berufsfreiheit, eigenes Konto, häusliche Gewalt etc.). Warum? Ja, genau: Warum! Auch, als das Rauchen von Zigaretten und Zigarren (!) in Bussen verboten wurde, um Kinder und Nichtraucher:innen zu schützen, gab es derartige Kritik, geradezu Aufschreie wie „Bevormundung“, „Freiheitseingriff“, verbunden mit dem Ruf nach Selbstbestimmung – so auch beim Werbeverbot für Alkohol (jährlich über 60.000 Tote!) und für Zigaretten (jährlich über 127.000 Tote!).
Immerhin: Rückblickend identifizieren wir sehr viele Gesetze als sinnvoll, ja sogar dringend geboten. Mit einigen Jahren Abstand fragen wir uns sogar, warum es für derartige Selbstverständlichkeiten überhaupt Gesetze erforderte, um so krasse und egoistische Fehlverhalten zu regulieren.
Selbstbestimmung ist eine dysfunktionale Utopie!
Vorsicht vor der Allianz der Destruktivität
Unternehmen, die eigeninitiativ viel Geld und Ressourcen für den Umwelt- und Klimaschutz investieren, brauchen Planungssicherheit vonseiten der EU-Legislative. Die ist zwar nicht gefährdet, doch ein Paradoxon in der EU ist, besonders im Vergleich mit anderen Wirtschaftsräumen, dass die Chancen und die bereits erreichten Erfolge der Green Economy bzw. von Cleantech massiv relativiert oder kleingeredet werden – angetrieben durch eine Allianz verschiedener Akteure.
Zwar agieren diese aus verschiedene Motivationen heraus, jedoch im Ziel vereint, den nachhaltigen, technologischen Fortschritt in der EU und generell die Idee der nachhaltigen Transformation zu bremsen:
- Die Lobbys der Industrien rund um fossile Brennstoffe (Gas, Öl, Kohle, Atom) agieren aus finanziellen Interessen,
- Länder wie Russland führen in den sozialen Medien Krieg gegen westliche Demokratien, mit dem Ziel, diese zu destabilisieren (vgl. Putins Trollarmee, FAZ) und
- populistische Parteien versuchen, diese Bremswirkung zu verstärken, um sich ihren politischen Einfluss zu sichern.
Eine Art dystopisches Rauschen also, begleitet durch eine Flut von Fake News und „Like-Bots“, auch für rechtsextreme Parolen: und jeden Tag noch mehr davon in unseren sozialen Medien.
Gehen sie zurück nach Los? Da waren wir doch schon!
Nachhaltigkeit als bestmöglich demokratischer Prozess
Grenzen, die Labels wie das Druckproduktlabel Blauer Engel DE-UZ 195 aus guten Gründen setzen, verhindern Optionen, z. B. beim Design, nicht per se. Würden wir bei UmDEX das Gewicht solch offizieller Standards relativieren, ohne den mittel- und langfristigen Preis dafür zu benennen, den Unternehmen zunehmend dafür zahlen werden, denken wir nur an den beschlossenen CO₂-Preisanstieg, handelten wir fahrlässig: Darum informieren wir immer wieder über den tieferen Sinn und Zweck dieser Standards und die ökonomischen Vorteile, die sich schon jetzt oder zunehmend für die Wirtschaft ergeben.
Natürlich lässt sich über das Tempo sprechen, in dem einzelne Unternehmen künftig auf unweigerlich steigende CO₂–Preise reagieren – aber sie werden reagieren müssen! Ökonomisch wichtig ist auch der Blick darauf, welche Siegel schon jetzt zunehmend von Printbuyer:innen angefragt werden, denken wir nur an Ausschreibungsbedingungen, nicht nur bei öffentlichen Ausschreibungen. Immer mehr Unternehmen optimieren ihre Lieferketten (Lieferkettensorgfaltsgesetzt) oder streben ein besseres Ranking in Benchmark-Dienstleistern wie EcoVadis an, was nachhaltige Druckprodukte einbindet. Und immer mehr Drucksacheneinkäufer:innen suchen aus Überzeugung hochwertige, offizielle Labels.
Das sind wesentliche Wettbewerbsfaktoren für Druckdienstleister.
Mögen gewisse Regularien auch noch nicht perfekt sein, so werden sich alle Unternehmen der Druck- und Medienbranche früher oder später dahin orientieren – nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus ökonomischen und ökologischen. Das ist ein Fakt, jedenfalls, bis populistische Ideologen mit ihren völkischen Truppen ins Kanzleramt einzögen. Das wird zum Glück nicht passieren, denn die Wirtschaft hat sich eindeutig positioniert:
So denken Wirtschaft und Industrie in Deutschland
Offizielle Standards sind auch in der Druckbranche Garant für Transparenz und fairen Handel. So können Einkäufer:innen bestmöglich vergleichen und Greenwashing wird bekämpft.
Die Wirtschaft steht so gut wie vollständig geschlossen hinter den Regularien der nachhaltigen Transformation und warnt eindringlich vor Rechtsextremismus, auch, weil die EU, insbesondere Standards und Normen als Feindbild gezeichnet wird. Die Wirtschaft sieht die Transformation als Garant für ihre Wettbewerbsfähigkeit, Energiesicherheit und eine generell starke Wirtschaft. Einzelne Kritik an bestimmten Formulierungen etc. wird an die dafür vorgesehenen Ausschüsse und Gremien adressiert.
Stimmen aus der Wirtschaft lassen an der Zustimmung keinen Zweifel: Zum Beispiel das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung: DIW-Chef Marcel Fratzscher kritisiert: Den Vorständen einiger Unternehmen fehle der Mut, öffentlich Stellung zu beziehen. EDEKA und andere zeigten bezogen schon Stellung. Auch der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, BDI, Siegfried Russwurm, stemmt sich gegen Populismus und begrüßt Demonstrationen gegen rechts. Ähnlich klare Kante zeigt die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), vertreten durch Präsident Peter Adrian.
Die Präsidentin des Verbandes Die Familienunternehmer e. V. Marie-Christine Ostermann sieht viele Gründe, warum populistische Parteien wie die AfD stärker wurden, sagt jedoch:
„Diese Partei will aus der EU“
so ihre Kritik an der AfD, die für Unternehmer:innen u. a. deshalb gefährlich sei, weil Rechtssicherheit ein hohes Gut darstellt. Ihr Resümee:
„Die AfD hat keine schlüssigen Lösungen für die großen Herausforderungen.“
Auch die Präsidentin des Verband der Autoindustrie (VDA), Hildegard Müller, stellt sich klar gegen Populisten. So auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), vertreten durch seinen Präsidenten Jörg Dittrich.
Viele weitere Verbände stehen grundsätzlich hinter EU-weiten Standards und Normen – Diskussionen über einzelne Formulierungen sind immer eingeschlossen.
Klares Bekenntnis zur nachhaltigen Transformation!
Der Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e. V., BNW, unterstützt sogar sehr konkret die Bestrebungen zu einem ambitionierten Lieferkettengesetz, trotz der administrativen Aufwände. Und 50 Deutsche Unternehmen der Stiftung KlimaWirtschaft unterstützen die nachhaltige Transformation als, so wörtlich: Jahrhundertprojekt.
In einem Fachbeitrag über die Substituierung von Gas- auf LED-Lichthärtung im Rollenoffset-Druck, haben wir die Wucht und den Sinn und Zweck des Europäischen Green Deal einleitend zusammengefasst.
Wirtschaft und Industrie setzen auf deutlich sinkende Energiepreise und würdigen auch die Notwendigkeit, dass die Wirtschaftsmacht EU angesichts der Weltkrisen souverän bei der Energieversorgung wird. Technisch ist das möglich. Wirtschaftlich ist das auch vernünftig. Mit Blick auf die Green Economy rechnen Expert:innen mit Hunderttausenden neuen Arbeitsplätzen zum Beispiel in verschiedenen Cleantech-Segmenten. Die Wirtschaft weiß nur zu gut, dass Energie-Souveränität, Arbeitsmarkteffekte und die Wertschöpfung von Energie (Energiereichtum) positive Faktoren sind und den sozialen Frieden stabilisieren.
Allerdings führt der Weg dahin nicht an temporären, aber teils massiven Investitionen und Belastungen für alle EU-Bürger:innen vorbei.
Das gilt nicht nur für die Deutschen. Rechtsextreme nutzen diese Stimmung und fordern immer wieder einen massiven Rückbau, wenn nicht den vollständigen Abbau der EU-Bürokratie. Sie bestreiten den anthropogenen Treibhauseffekt, als hauptsächliche Begründung dafür, die Standards und Normen zum Umwelt- und Klimaschutz zu canceln.
Mein Fazit: Ich weiß, dass der Autor Print mag. Ich mochte z. B. seine Krimis. Nun ist dies aber kein Krimi, sondern die Fachwelt. Es gibt auch kein Fall zu lösen! Manche seiner Botschaften in der Presse wären einzeln wohl kaum ins Gewicht gefallen. Doch verbindet der Autor das alles systematisch zu einer Kulisse, die mich nicht anmacht und nicht informiert, eher dramatisiert und polarisiert. Weniger versierte Leser:innen könnte das in Summe falsch interpretieren.
Kalkül? In der grafischen Industrie dürfte eine berechenbare Mehrheit noch nicht motiviert sein, sich stärker mit Standards zu beschäftigen. Vermutlich finden sich Applaudierer, die sich nicht „beschränken lassen“ wollen. Verboten ist das natürlich nicht, hat aber keine gute Aura!
Jürgen Zietlow
Datenanalyst, Fachjournalist, Unternehmensberater für nachhaltige Kommunikation
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